„Freundschaft, das ist wie Heimat.“ Der Schriftsteller Kurt Tucholsky brauchte fünf Worte, um dieses Wir-Gefühl zu beschreiben. Gute Freunde bringen nicht nur Spaß und helfen uns bei Problemen – sie stärken auch die Gesundheit und federn Stress ab. Und für viele sind sie sogar wichtiger als Ehe und Familie, wie eine repräsentative Studie zeigt: Unter 29 Alternativen wählten 85 Prozent der Befragten „gute Freundschaften zu haben“ als das Wichtigste im Leben – noch vor „für die Familie da sein“ und „eine glückliche Partnerschaft haben“. Im Schnitt hält eine Freundschaft in Deutschland ganze 24 Jahre. Dafür hat ein Stammtisch des TTC Blau-Weiß Krefeld 1933 e.V. wohl nur ein müdes Lächeln übrig: Jeden Donnerstag treffen sich die fünf verbliebenen Paare auf ein Bier und ein Schwätzchen. Seit 1958 sind sie unzertrennlich.
Verpflegung gibt es eher selten bei Interviews, und so verspricht das klassische Spritzgebäck auf dem Weihnachtsteller schon einen gemütlichen Nachmittag. Inge und Heinz Schlüter, rüstige 87 und 88 Jahre alt, nehmen uns heute stellvertretend für ihre Stammtischfreunde mit auf eine Zeitreise durch die Krefelder Sport- und Gastronomiegeschichte. Weil nicht nur Sohn Frank, Jahrgang 1964, und seine Frau Chrissi schwer beeindruckt sind: „Wenn eine Gruppe von Menschen über sechs Jahrzehnte zusammenhält, sich jede Woche trifft und Kinder wie Enkelkinder gemeinsam aufwachsen sieht – das ist etwas ganz Besonderes!“
Und so begeben wir uns in die frühen Fünfzigerjahre: In einer Baracke neben dem Nordbahnhof wird umständehalber Tischtennis trainiert. Der damals 20-jährige Oppumer Heinz Schlüter erinnert sich vor allem an Armut: „Diese Sportart war damals nicht populär und somit nicht teuer. Hallen standen nicht zur Verfügung, wir hatten kein Geld für Schuhe – aber immerhin Bälle, Schläger und Platten. Also fanden Trainings und Mannschaftsspiele in diesem Schuppen statt.“ Er sei „etwas talentiert“ gewesen, stellt Heinz mit einem breiten Grinsen fest. Zu den ersten Turnieren in der näheren Umgebung ging es schlicht mit dem Fahrrad. Nach Wuppertal oder Emmerich reisten alle getrennt mit Mofa, Motorrad oder Auto an. Urkunden der zahlreichen Meistertitel füllen zwei große Bilderrahmen, darunter Vize-Weltmeister der Senioren im Doppel, Rimini 1986. Aber das sei doch nicht das Thema, beschwichtigt Ehefrau Inge und reicht uns bescheiden ihre Notizen in ordentlicher Handschrift: „Wir Frauen haben die Männer zu den Spielen begleitet und danach gingen wir alle zusammen in den Nordbahnhof etwas trinken. Das muss um 1958 gewesen sein.“ So hundertprozentig wisse sie es nicht mehr, aber es war „definitiv nach unserer Hochzeit“. Den Kennenlerntermin beziffert sie hingegen genau: „Rosenmontag, 1. März 1954, beim Tanz nach dem Karnevalszug.“ Natürlich im Nordbahnhof.
Insgesamt acht Paare aus Tischtennisspieler und Partnerin gründeten den Stammtisch, heute sind neben Inge und Heinz Schlüter noch weitere vier dabei: Marga und Kurt Bleyer, Evelyn und Frank Krahnke, Gudrun und Rolf Leuchtgens sowie Ellen Pendow und Lothar Neumann werden unisono aufgezählt. Die Altersspanne reiche von 76 bis 93 Jahre. Niemand habe diesen Kreis einfach so verlassen, betont Heinz – und Inge wirft ein: „Es gab unter uns nie einen ernsthaften Streit, keine Scheidungen, nur Todesfälle.“ Angesichts der unfreiwilligen Komik müssen wir alle lachen. Jahrelang sei es bei den wöchentlichen Treffen im Nordbahnhof um Themen wie Politik, Sport, Mode, Kinder oder „auch Krankheiten“ gegangen, immer schön nach Geschlechtern getrennt, wie Inge mit einem Schmunzeln zugibt. „Wir sitzen nicht nebeneinander. Die Männer bestellen meist Pils, die Frauen bevorzugen Ouzo, mindestens zwei Runden!“ Denn vor ein paar Monaten zog der Stammtisch um in die Gaststätte „Drüje Patruon“, die mittlerweile von griechischen Betreibern geführt wird.
Auch auf gemeinsame Erlebnisse blicke man gern zurück: „Zusammen haben wir viele schöne Urlaubsreisen unternommen, an Nord- und Ostsee, nach Bayern oder Holland. Und im Jahr 1986 waren wir zur Tischtennis-WM in Rimini!“, heißt es auf Inges Spickzettel. „Wir sind mit dem Zug hingefahren – und auch zurück“, scherzt Heinz, während sie das Hotel noch in guter Erinnerung hat. Die ganze Familie ist sich einig, dass der Italientrip ein „Highlight“ gewesen sei. Frank Schlüter wirft ein, dass er zwar das Talent des Vaters geerbt, aber trotzdem nie gegen ihn gewonnen habe. Neben Tischtennis war bei allen eine Weile auch Tennis beliebt, bis „die Bälle immer schneller und die Gegner immer jünger wurden.“ Drei Augenpaare leuchten um die Wette.
Der Sohn hat es nach eigenen Angaben gut verkraftet, dass seine Eltern jede Woche einen Abend außer Haus verbrachten. Betreut von Oma oder Nachbarn habe er am Fenster gestanden und gewunken – „manchmal hatte ich schon ein schlechtes Gewissen“, beichtet Inge. Auf der anderen Seite schöpften die Freunde viel Kraft aus der langjährigen Beziehung. Während der Lockdowns, als persönliche Treffen nicht möglich waren, habe Lothar die Gruppe durch tägliche Telefonate zusammengehalten. „Eine WhatsApp-Gruppe gibt es auch seit zwei Jahren“, freut sich Inge über die neue Möglichkeit, kleine Nachrichten oder Fotos zu verschicken. „Inzwischen nehmen die Jüngeren die Älteren im Auto mit, das ist Freundschaft!“. Bei der Frage nach dem Erfolgsrezept muss Gatte Heinz nicht lange überlegen: „Toleranz, Akzeptanz und Zuhören.“ Und fügt trocken hinzu: „Das passt auch auf jede gute Ehe.“
Frank resümiert mit hörbarem Stolz, was ihn am Stammtisch seiner Eltern so fasziniert: „Alle sind noch in Krefeld, alle sind hier geboren, alle sind befreundet.“ Es gibt sie noch, die Freundschaften fürs Leben. Oder wie die Rockband Queen 1986 schon sang: „Friends Will Be Friends.“